
Durch meine vielen Umzüge und durch die drei Berufe, die ich erlernt habe, war ich gezwungen, immer wieder neue Kontakte zu knüpfen. Aus diesen Kontakten sind viele intensive Freundschaften entstanden, die – wie ich vor einigen Jahren festgestellt habe – alle auf einer bestimmten „Architektur“ basieren. In den folgenden Beiträgen beschäftige ich mich mit den fünf Grundpfeilern der Freundschaft. Ich glaube, es ist gut, sich immer wieder bewusst zu machen, was Freundschaften ausmacht, warum Freundschaften scheitern und was wir selbst zu ihrem Wachstum oder ihrem Scheitern beitragen.
Die ersten beiden Grundpfeiler
Wenn ich mit meinen Freund:innen telefoniere oder sie treffe, zeichnen sich unsere Gespräche durch ein wirklich schön ausbalanciertes, gegenseitiges Zuhören und Nachfragen aus. Sie sind ein Weißt-du-noch-damals? Ein Wie-geht-es-uns-beiden-gerade? Und ein Was-werden-wir-tun? Es sind die Gemeinsamkeiten und gemeinsamen Erinnerungen, die uns verbinden, und es sind die Unterschiede in unseren Lebens-, Denk- und Handlungsmodellen, die unsere Gespräche abwechslungsreich und inspirierend machen. Meine Berliner Grundschulfreundin (it’s been more than 40 years…) ist zum Beispiel unfassbar freundlich und gutmütig, geradlinig und ausgeglichen, sie sagt nie „fuck“ oder „Scheiße“, sie ist nie in ihrem Leben schwarzgefahren (das finde ich als ehemalige Berlinerin wirklich bewundernswert), sie hat sich aus finanziell schwierigsten Verhältnissen herausgearbeitet und sie braucht kein social media – was ich ziemlich cool finde. Aufgrund all unserer Gespräche kenne ich das „Gesamtpaket“ – ihre Familien-, Beziehungs- und Karrieregeschichten. Und dann sitze ich vor ihr und zergehe, ja wirklich, ich zergehe vor neidfreier Bewunderung: für den Kleidungsstil, den sie für sich gefunden hat, für die minimalistische Innendekoration ihres Hauses, für die ansteckende Ruhe, die sie ausstrahlt, für ihre 100%ige Integrität, für die Bedachtheit, mit der sie alle ihre Entscheidungen fällt, für die wertschätzende Art, mit der sie über ihre Mitmenschen spricht, und ich denke, wow, was für eine Frau, was für ein Mensch!
Meine Bewunderung hat natürlich nichts mit Geld oder Karriere oder einem akademischen Bildungsweg zu tun. Im Gegenteil, meine Bewunderung gilt vor allem dem, was ich selbst nicht bin, nicht kann oder nicht lebe: zum Beispiel grenzenlosem Optimismus, fast kindlicher Lebensfreude, bedachter Geradlinigkeit, streetwisem Allgemeinwissen, kompromissloser Ehrlichkeit, selbstloser Empathie und und und.
Glücklicherweise spüre ich bei jedem Gespräch, dass auch meine Freundin dieses Interesse und diese Bewunderung für mich aufbringt. Das liegt an dieser angenehmen Gesprächsbalance, an ihren Nachfragen, die mir Raum geben, etwas von mir zu erzählen, und ihren Anmerkungen, mit denen sie mir ihr aufrichtiges Interesse und ihre liebevolle Wertschätzung entgegenbringt. Ich glaube inzwischen allerdings wirklich, dass es Menschen gibt, die das nicht können und nicht lernen wollen:
Die No-goes
Aufrichtiges Interesse und Wertschätzung schließen ein Kommunikationsverhalten aus, auf das ich entweder zunehmend allergisch reagiere oder das eine sich schleichend ausbreitende Erwachsenenkrankheit zu sein scheint. Oder beides.
a) Einseitige Monologe ohne Rücksicht auf mein Gegenüber
Und sei das Gesagte meines Gegenübers noch so interessant, irgendwann brauche ich das Gefühl, dass mein Gegenüber sich auch für mein Leben interessiert. Besonders empfindlich reagiere ich auf Menschen, die ununterbrochen über ihre eigenen Kinder reden, in der Regel übrigens, ohne sich nach meinen zu erkundigen. Ich finde es erstaunlich, dass Menschen permanent über etwas sprechen, das sie im Leben anderer Menschen offensichtlich überhaupt nicht interessiert. Mal ganz abgesehen davon, dass ich mich mit anderen Erwachsenen ohnehin nicht den ganzen Tag über Kinder unterhalten möchte, denn kein Mensch ist „nur“ Eltern.
Dies gilt ebenso für ungefragte Endlosmonologe über das eigene Berufsleben. Auch hier denke ich, dass unser Beruf nur einen Teil unseres Lebens ausmacht. Außerdem ist das Fachwissen keines Menschen dauerhaft interessanter als das eines anderen. Oft sind es ja die persönliche Zufriedenheit, der Umgang mit den Mitmenschen und berufliche Zukunftsvisionen, die den (Beruf des) anderen spannend machen. Und dazu haben alle Menschen etwas Interessantes zu berichten, egal wie hoch Einkommen und Bildungsgrad sind.
Befremdlich finde ich auch die Menschen, die zum Beispiel (und das ist mir unzählige Mal passiert) im Detail darüber referieren, welch aufregende Stadt New York ist, weil sie dort fünf Tage Urlaub gemacht haben, oder mir einen ausführlichen Vortrag über die Korrekturmiseren des Lehrerberufs halten. Ich habe über ein Jahr in New York gelebt und ich bin Lehrerin, auch wenn viele Menschen mich in für meinen Beruf eher unüblichen Kontexten treffen. Bevor ich zu einem Monolog ansetze, sollte ich vielleicht mal den Wissensstand meines Gegenübers abchecken, sonst wird es peinlich.
b) Als „Ratschlag“ verpacktes Desinteresse
Und dann sind da noch die Menschen, die jedes Wort aus deinem Mund als Schlagwort für eine eigene Geschichte nutzen und auch jedes deiner erzählten Probleme mit einer eigenen Story „überbieten“. Was sich vielleicht anfühlt wie ein empathischer Ratschlag aufrund von ähnlichen Erfahrungen, ist bei diesen Menschen oft nur ein weiteres Mal die „egoistische Beanspruchung“ von Aufmerksamkeit und Redezeit. Natürlich hoffe ich, dass mein Gegenüber das Problem noch einmal aus einer anderen Perspektive beleuchten kann, oft aber führen ja erst das kritisch-interessierte Nachfragen und das gemeinsame Durchspielen von Lösungen zu einem hilfreichen Ratschlag. Und jeder Mensch mit Einfühlungsvermögen und der Bereitschaft wirklich zuzuhören, kann zumindest dabei helfen, das Geschehene zu überdenken, Gedanken zu sortieren und Handlungsmöglichkeiten durchzuspielen.
Selbstkritik
Ausbalanciertes Interesse und neidfreie Bewunderung sind für mich die ersten beiden Grundpfeiler einer lebenslangen Freundschaft. Bricht einer der Pfeiler weg, wird es schwierig. Deswegen hege ich auch oft Selbstzweifel, denn ich musste erst mühselig lernen, mich zurückzunehmen und zuzuhören, und ich steigere mich ab und zu ohne Rücksicht auf mein Gegenüber verbal in Themen hinein. Wie in einer funktionierenden Partnerschaft hinterfrage ich aber auch immer wieder, ob ich meinen eigenen Ansprüchen gerecht werde, und ich versuche, an meinen Schwächen zu arbeiten. Love in progress eben.
Und ihr?
Und ihr? Bewundert ihr auch all eure Freund:innen? Oder worin liegt der Kern eurer Freundschaften? Und wie geht ihr mit den Monologen eurer Mitmenschen um? Könnt ihr mit einem Menschen befreundet sein, obwohl dieser permanent nur von sich erzählt? Vielleicht empfindet ihr das gar nicht als No-go? Und wie reguliert ihr den Drang, zu viel von euch selbst zu erzählen?
Im nächsten Blogeintrag geht es um einen weiteren (wohl eher umstrittenen) Grundpfeiler: die Großzügigkeit.