#1: Jewels in a box

„Du bist so ausdruckslos und grau, dass man dich nicht mal sehen würde, wenn du alleine auf einer Bühne stehst.“

Mit diesen Worten entließ mich die fünfköpfige Iwanson Dance Centre Jury aus meiner allerersten „Tanzaudition“ (Aufnahmeprüfung). Ich nickte einsichtig, verabschiedete mich höflich und fuhr als eine der wenigen „Aussortierten“ nach Hause. Damals habe ich mehrere Tage geweint, und dann habe ich beschlossen zu kämpfen: Ich konnte mich zwischen drei Privatschulen entscheiden, schaffte den Sprung an die Hochschule für die Künste in Arnheim, erhielt zwei Stipendien an der Martha Graham School. Dort, fünf Jahre später, sagte mir der erste Mensch nach einer Show, dass es Spaß mache, mir auf der Bühne zuzusehen. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass das erste verheerende Urteil, das über mich als Künstlerin gefällt worden war, mich zu einer erfolgreichen Kämpferin gemacht hatte. Tanzauszubildende psychisch zu zerstören, damit sie sich in der ausbeuterischen Welt der freien Künste durchsetzen können, klingt also nach einem erfolgversprechenden pädagogischen Konzept.

Aber

Aber letztendlich habe ich in meiner Ausbildung nicht FÜR etwas, sondern vor allem GEGEN etwas gekämpft, nämlich gegen die Angst, auf der Bühne grau und unsichtbar zu sein. Wenn ich auf der Bühne nicht gesehen werde, kann ich sie verlassen – außer jemand hat aus Versehen das Licht ausgeschaltet. Heute – 30 Jahre später stehe ich alleine auf wahrlich großen Bühnen, nicht selten vor über 1000 Zuschauer*innen. Und zwar alleine. Aber gegen diese Angst kämpfe ich immer noch und keine Höchstwertung, kein Sieg, keine Fanmail, kein Kompliment kann die erste Verletzung ungeschehen machen. Deshalb stelle ich mir oft die Frage, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn die erste Jury FÄHIG gewesen wäre, das zu sehen und auszudrücken, was später viele andere Menschen gesehen haben: „a jewel in a box“, „an enormous creative potential“, „a fierce mind and body“. Ich glaube, mein künstlerischer Weg wäre glücklicher gewesen. Ich hätte das Tanzen mehr genossen und weniger erkämpft. Ich glaube, ich hätte nicht aufgehört zu tanzen. Und ich hätte heute mit Sicherheit ein anderes Verhältnis zur Bühne. Und das Bittere: Ich glaube, ich wäre genauso weit gekommen, vielleicht sogar ein Stückchen weiter.

Deshalb

Deshalb versuche ich, in meinen Schüler*innen (und in anderen Mitmenschen) Talente – egal welcher Art – zu entdecken und diese mit aller Deutlichkeit zu spiegeln: Schreibtalent, Gerechtigkeitssinn, Allgemeinwissen, klare Ziele, ein scharfer Blick für die Dynamik in der Gruppe, originelle Gedankengänge, die Fähigkeit zuzuhören oder in einem Moment zu versinken (und, und, und). Das alles hat wenig mit fachlichen Ansprüchen, aber sehr viel mit menschlicher Wertschätzung zu tun, es hat auch wenig mit irgenwelchen mechanischen Feedback-Methoden, sondern sehr viel mit achtsamer Kommunikation zu tun. Um Kritik und das Besprechen von Fehlern kommen wir natürlich weder im Berufsleben noch in unseren Beziehungen herum. Kritik kann ich allerdings nur dann annehmen, wenn die Person, die sie äußert, mir gleichzeitig überzeugend vermitteln kann, dass sie a) selbst in diesem Punkt an sich arbeitet und mich b) wertschätzt, weil sie mir einen Weg aufzeigt, wie ich diese Kritik nutzen kann, um vorwärts zu kommen. Wir möchten aufgebaut und nicht vernichtet werden. Wir möchten durch das, was andere Menschen zu uns sagen, wachsen und nicht klein gehalten werden. Wir möchten unsere Talente erkennen und leben lernen, denn wir sind alle „jewels in a box“.

Allerdings

Allerdings scheitert das ganze genau an dem Punkt, an dem Menschen in einem System sitzen, das ihnen nicht gerecht werden kann, weil es ihre Talente brachliegen lässt. Kinder mit enormen sozialen Fähigkeiten, mit bewundernswerter Geduld, mit unglaublichem manuellen Geschick, mit neuen philosophischen Denkansätzen können an Gymnasien zugrunde gehen, wenn sie einen Großteil der Schulfächer intellektuell nicht greifen können und nur noch Kritik und schlechte Noten ernten. Es ist verheerend, wenn Eltern das – und damit auch die Talente ihres Kindes – nicht erkennen. Kostbare Juwelen in einer falschen Box. Es gibt viele Systeme, in denen wir zugrunde gehen würden, weil uns die in dem System erforderlichen Stärken fehlen. Aber das macht nichts, wir können das, wenn wir Lust haben, alles ein wenig trainieren, ohne es zu unserer Berufung zu machen. Denn meine Berufung ist dort, wo meine Stärken sind, und ich erkenne sie selbst meist nur in Systemen, in denen ich sie entwickeln und ausleben kann, und gemeinsam mit Menschen, die mich aufrichtig bestärken.

Drei Fragen

Drei Fragen ergeben sich aus all diesen Überlegungen:

  • Konzentriere ich meine Wahrnehmung auf meine Talente und die meiner Mitmenschen?
  • Bewege ich mich in einem System, in dem meine Stärken zum Ausdruck kommen können?
  • Werde ich von den Menschen um mich herum bestärkt?

Wenn wir eine dieser Fragen für uns mit „Nein“ beantworten müssen, ist es an der Zeit, Dinge zu ändern. Das wirklich Praktische an diesen Dingen ist, dass wir sie selbst verändern können.

Und jetzt bist du dran: Was sind deine Stärken? Welche Menschen haben dir wie dabei geholfen, sie zu entdecken und zu entwickeln? Und wo kannst du sie ausleben? Ich freue mich auf deine Meinung, es wäre schön, wenn du dein Erfahrungen hier mit mir teilst!

„Du bist so ausdruckslos und grau, dass man dich nicht mal sehen würde, wenn du alleine auf einer Bühne stehst.“

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